… und warum meine Hochsensibilität mir half, diese zu heilen.
… weil meine Erlebnisse als ehemaliges Verschickungskind einer der Ursachen für meine Hochsensibilität sind. Und, weil ich andere ermutigen will, sich mit ihrem Trauma auseinanderzusetzen und niemals aufzugeben - dass es Hoffnung gibt, ein befreites Leben zur führen. Weil sich niemand dafür schämen muss, beim Kampf um die eigene Glaubwürdigkeit um Hilfe zu bitten – und ja: auch die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit mit einzubeziehen.
(An dieser Stelle sei angemerkt, dass ich zum Veröffentlichungszeitpunkt dieses Blog-Artikels nur über wenig freigegebenes Bildmaterial aus jener Zeit verfüge. Ich habe Fotos bei verschiedenen Institutionen bzw. Kontaktstellen, welche aufwändige Recherchearbeiten zum Thema Verschickungskinder durchführen, angefragt. Ggfs. werde ich nachgereichtes und freigegebenes Bildmaterial diesem Blog-Artikel später noch nachfügen.
Fotos, die die darüberhinaus in diesem Blog-Artikel veröffentlicht sind, stammen u.a. aus meinem persönlichen Archiv oder dienen als symbolische Platzhalter.)
** Dieser Blog-Artikel kann retraumatisieren! **
INHALTSVERZEICHNIS:
Abfahrt (... ins Ungewisse ...)
Adolfinenheim (Die Ankunft ...)
Speisesaal (Essen unter Zwang ...)
Schlafsaal (... ans Bett gefesselt ...)
Duschraum (... die Nacht auf den kalten Fliesen ...)
Sturmflut (... bittere Ungewissheit)
Vorwort & Vorgeschichte:
Lange, wahrscheinlich viel zu lange, habe ich mit mir gerungen, hier in meinem Blog darüber zu schreiben. Über 42 Tage langen militärischen Drill, physische und psychische Gewalt haben sich bis heute in mein Gedächtnis eingebrannt. Seit meinem 6. Lebensjahr.
Über Jahrzehnte hat es gedauert, bis das Schicksal von schätzungsweise 10 Millionen sogenannter Verschickungskinder Aufmerksamkeit in der Öffentlichkeit erhielt. Kinder, die unter anderem aufgrund verschiedenster Erkrankungen während der 1950er bis in die 1990er Jahre - ohne ihre Eltern oder Sorgeberechtigte - in vermeintliche Erholungsheime zu Genesungszwecken verschickt wurden. Dort erlebten viele der Kinder Vernachlässigungen, Misshandlungen, psychische und physische Gewalt oder sogar sexuellen Missbrauch. Sie leiden bis heute unter den traumatischen Erfahrungen. Die Aufarbeitung dieses dunklen Kapitels der Nachkriegsgeschichte ist noch lange nicht abgeschlossen. In den letzten Jahren hat das Schicksal der Verschickungskinder verstärkt Aufmerksamkeit erhalten, da Überlebende ihre Geschichten öffentlich gemacht haben und Forderungen nach Aufklärung und Entschädigung laut wurden. Verschiedene Organisationen und Initiativen setzen sich inzwischen für die Anerkennung des Leids der Betroffenen und die Bewältigung der historischen Aufarbeitung ein. Dank dieser vielen Recherchen kommt nun immer mehr Licht in diese düsteren Erlebnisse, die lange als Tabu galten. Ein Tabu, das das grausame Geschäft der „Verschickungsindustrie“ aus jener Zeit für immer unter Verschluss halten sollte.
Es gibt sie, die geschundenen Kinderseelen, die lernten, sich zu behaupten und aus denen willensstarke Erwachsene wurden!
Ich darf mich zu ihnen zählen.
Meine Erlebnisse aus damaliger Zeit sind mitunter so präsent, dass sie nicht nur bis heute für Alpträume in der Nacht sorgen, sondern mich letztendlich auch zu dem Menschen gemacht haben, der ich heute bin.
Bei meinen späteren Versuchen, auch als Erwachsene, mich über meine Erinnerungen auszutauschen, sei es aus der Zeit als Verschickungskind als auch aus anderen düsteren Zeiten während meiner Kindheit, herrschte als Reaktion oft Erschrecken. Ich habe nie aufgehört, diese Erlebnisse zu verarbeiten und gerade deswegen an mir zu arbeiten! Im Zuge des Erwachsenwerdens konnte ich mich mit meinen Großeltern väterlicherseits und auch meinem Vater zu ihren Lebzeiten über die vielen schrecklichen Erlebnisse austauschen. Sie gehörten zu den wenigen, die mir glaubten und bestätigten, dass es sich nicht um „Hirngespinste“ handelte – wie es meine Mutter oft abtat. Mein Großvater, den ich über mehrere Jahre bis zu seinem Tod pflegte, bestätigte mir ebenfalls in vielen Gesprächen die traumatischen Erlebnisse meiner Kindheit. Er bedauerte es sehr, dass mich diese Erinnerungen nicht losließen. Nicht zuletzt ist er einer der wenigen Menschen in meinem Leben gewesen, die mich zu jener Zeit sehr gefördert haben, um meinen eigenen Weg zu gehen.
Meine Mutter hingegen hält bis heute an ihrer Verdrängungstaktik fest und hat sich all' diesen Themen nie gestellt. Jeglicher Versuch, sich als junge und später auch erwachsene Tochter mit ihr darüber auszutauschen, ist bis heute gescheitert.
Noch immer gibt es Dinge im täglichen Leben, bei denen sich meine Nackenhaare sträuben oder die mir den puren Ekel ins Gesicht treiben: unnötiges Schimpfen und Schreien, Metallbetten, Speisesäle, bestimmte Essensgerüche und Geräusche, verschlossene Türen in der Nacht und vieles mehr. Auch lange nach meiner Zeit als Verschickungskind erwischte ich mich dabei, wie ich innerlich erschrak und mich unwohl fühlte, wenn mir Nonnen in ihren Gewändern oder Frauen in Schwesterntracht entgegenkamen. Jene, in deren Obhut ich gegeben wurde, um wieder "gesund" zu werden – nach einer schweren Lungenentzündung und Blutvergiftung - im Alter von knapp 3 Jahren. Ich galt als Kind nach dieser Krankheit als besonders „anfällig“ und körperlich entkräftet. Die Ärzte hatten mich damals nach meiner schweren Erkrankung schon fast aufgegeben und bereiteten meine Eltern noch am Krankenbett darauf vor, dass ich die nächsten 48 Stunden mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht überleben würde. Meine Oma Billa erzählte mir später davon und sagte, dass ich „eine kleine Kämpferin“ war. Und ich erinnere mich tatsächlich an den Tag, als ich das erste Mal wieder aufwachte. Diese Erinnerungen wurden mir immer wieder von meiner Großmutter und meinem Vater später bestätigt. Die Tortur begann nach meinem Erwachen aus dem Koma und setzte sich über einen mehrmonatigen Klinikaufenthalt, Rehabilitationsmaßnahmen und 3 Jahre später mit dem Aufenthalt in einem Kinderkurheim auf der mehre hundert Kilomieter weit entfernten ostfriesischen Insel Borkum fort – dem Adolfinenheim.
Ich bin mir sicher, dass ich meine Hochsensibilität vor allem wegen meines langen Aufenthalts in der Kinderklinik als Überlebensstrategie entwickelt habe und aufgrund meines schwierigen Familienumfelds. Als Kind war ich innerlich permanent auf der Hut. Die Streitereien und das fast tägliche Geschrei meiner Eltern waren schon damals so präsent, dass ich mich ständig im Überlebensmodus befand. Sobald die Stimme meiner Mutter lauter wurde, schreckte ich innerlich hoch. Oft versteckte ich mich hinter dem Sofa und beobachtete die Szenen vor mir durch die Polsterritzen. Einmal traute ich mich nicht, mich ins Bett zu schleichen, da es draußen am Abend laut blitzte und donnerte. Irgendwann muss ich einfach eingeschlafen sein, als meine Mutter mich hinter dem Sofa fand. Ihre Schreierei werde ich niemals vergessen. Allein der Versuch, ihr mit meiner kindlichen Ausdrucksweise klar machen zu wollen, warum ich mich dort hinter dem Sofa versteckt hatte, wurde im Keim erstickt.
Eine der schlimmsten Erinnerungen ist jene, als meine Eltern mit mir spazieren gingen. Ich muss etwa 3 Jahre alt gewesen sein. Es war nicht weit von unserem Haus entfernt, in dem wir wohnten. Unsere Wohnung im Obergeschoss hatte kein eigenes Bad, sondern nur ein Plumpsklo mit einem Waschbecken.
Wir gingen am Fluss entlang, unterhalb der Siegbrücke. Es war Abend. Ich erinnere mich deshalb noch so gut daran, weil in der Nähe Werbung für einen Zirkus zu sehen war – darauf war ein Löwenkopf mit großer Mähne und weit aufgerissenem Maul zu erkennen. Oberhalb der Brücke fuhren Autos mit eingeschalteten Scheinwerfern. Meine Eltern stritten lautstark. Meine Mutter schimpfte und weinte. Wir waren mittlerweile oberhalb der Brücke angekommen, als mein Vater sich plötzlich umdrehte und eiligen Schrittes einfach davon ging. Ich fing an zu weinen und meine Mutter wurde hysterisch. Dann drehte sie sich ebenfalls um, ging einfach weg und ließ mich alleine zurück. Ich klammerte mich am Kindersportwagen fest, neben dem ich mit meinen Eltern hergegangen war. Ich konnte zu jener Zeit schon viele Schritte laufen, jedoch brauchte ich dabei noch die stützenden Hände meiner Eltern. Aber sie liefen beide in entgegengesetzte Richtungen einfach fort. Die Werbung mit dem Löwenköpf wirkte in dieser Situation so bedrohlich, dass ich immer lauter weinte und schluchzte. Im Hintergrund hörte ich die Autobahngeräusche. Diese hallten in meinem Kopf und verstärkte die Ohnmacht und Hilflosigkeit, die ich in diesem Moment empfand. (Bis heute reagiere ich auf diese Art von Geräusch empfindlich und unterdrücke immer noch dieses beklemmende Gefühl, das mich überkommt, wenn ich mich in der Nähe einer Autobahn aufhalte oder gar diese befahren muss. Dies ist einer der Gründe, warum ich oft lange Umwege über Landstraßen in Kauf nehme.)
Mein Vater kam plötzlich zurückgelaufen, packte mich und setzte mich in den Kindersportwagen. Ab diesem Punkt verlässt mich meine Erinnerung. Über viele, viele Jahre hinweg kam dieses Erlebnis immer wieder in meinen Träumen vor. Oft wachte ich weinend mitten in der Nacht auf und war erschrocken über mein Gesicht, das vor lauter Tränen brannte.
Was ich mit Sicherheit sagen kann: niemand aus meiner Familie – toxisch hin oder her – ahnte auch nur ansatzweise, in welche dunkle Hölle sie später ihr sechsjähriges Kind für etwa 42 Tage und Nächte schickten. Alleine – weit weg von zu Hause auf einer Insel in der Nordsee.
Vorbereitungen:
Meine Oma Billa war bei uns zu Hause zu Besuch und holte mich draußen vom Spielen rein.
Die Nachricht traf mich wie ein Pfeil: ich sollte über mehrere Wochen in ein „Erholungsheim“, um wieder zu Kräften zu kommen. Meine Oma Billa hielt meine Hand, während meine Mutter neben mir am Küchentisch saß. Ich starrte den Obstkorb an, der darauf stand, und vermied es, jemandem in die Augen zu blicken. Dennoch versuchte ich, die Worte meiner Oma zu begreifen. Sie zählte zu den wenigen Menschen, die sich sehr um mich bemühten, und zwar über das übliche Maß von „satt werden“, „ordentlich aus dem Haus gehen“, „gewaschen ins Bett gehen“ usw. hinaus. Emotionale Fürsorge gab es in meinem Elternhaus kaum – es sei denn, ich war krank und damit quasi ausgeliefert. Dann wurde ich von morgens bis abends betüddelt.
Trotz alledem fühlte ich mich nicht durchweg als "unglückliches" oder "kränkelndes" Kind. Ich spielte und tollte gerne mit anderen Kindern in der Natur herum. Vor allem Tiere waren für mich mein größtes Glück.
An den guten Tage guckte ich mir immer den Humor meines Vaters ab (den er sich sich trotz langer, schwerer Krankheit bis zum Schluss behielt). Die Erinnerung ein seine humorvolle Seite hilft mir noch heute, mich in schwierigen Situationen abzulenken.
Als der erste Schrecken über die Nachricht, dass ich für mehrere Wochen von zu Hause weg sollte, verdaut war, spürte ich nur noch Leere in mir. Ein Gefühl, das ich bis heute nur schwer beschreiben kann. Ich konnte einfach nicht begreifen, warum ich alleine fort musste.
In den nächsten Wochen kaufte Oma Billa mir jede Menge praktische Kleidung: einen Badeanzug, eine Badekappe, einen Schlafanzug usw. Meine Mutter bügelte tagelang auf schmalen Stoffstreifen meinen Namen in die Kleidungsstücke ein.
Dann kam der Tag, an dem alles in einen kleinen Koffer gepackt wurde. Es waren nur wenige Habseligkeiten, die für 6 Wochen reichen sollten. Ich nehme an, dass es genaue Vorschriften des „Erholungsheims“ gab, über das, was ich mitnehmen durfte bzw. musste und was nicht.
Abfahrt:
Ich saß im Auto meines Onkels, der meine Mutter, meine Oma Billa und mich zum Bahnhof fuhr. Aus späteren Recherchen erfuhr ich, dass es Köln war. Von dort sollte der Zug abfahren.
Am Bahnsteig angekommen traf ich auf eine riesige Schar an Kindern, die kleine Koffer mit sich herumtrugen. Viele weinten. Es ging alles sehr schnell. Zwei erwachsene Frauen hatten offenbar die Aufsicht und führten die Kinder in ihre Zugabteile. Ich trug ein rosafarbenes Kopftuch mit Pünktchen, das mir ständig vom Kopf rutschte. Ich war so ergriffen von den weinenden Kindern und der offensichtlichen Strenge der beiden Frauen, dass ich es verpasste, aus dem Fenster zu sehen, um meiner Oma und meiner Mutter zum Abschied zuzuwinken. Und so fuhr der Zug plötzlich los. Die Fahrt dauerte viele Stunden. Ich fühlte mich fürchterlich, doch ich vergoss keine einzige Träne. Ich schaute ununterbrochen aus dem Fenster und verdrängte das Schluchzen der anderen Kinder um mich herum. Sie alle waren in meinem Alter.
Als wir am Zielort ankamen, kommandierten uns die beiden Aufseherinnen aus dem Zug heraus. Ihre Strenge war unüberhör- und unübersehbar. Als ich mit all den anderen Kindern tumultartig auf eine Fähre befohlen wurde, fing ich an zu frieren. Ein eisiger und heftiger Wind traf mein Gesicht (es war Februar oder März zu jener Zeit). Die Fähre legte ab, und ich bekam keinen Sitzplatz. Verkrampft hielt ich mich an einem der Geländer der Fähre fest. Es gab einen heftigen Wellengang, daran erinnere ich mich noch sehr genau. Ich wollte um Hilfe bitten, als mir kotzübel wurde, aber ich konnte keine der beiden Aufseherinnen entdecken. Tapfer unterdrückte ich meine Übelkeit bis zur Ankunft auf der Insel Borkum.
Adolfinenheim:
Nie zuvor hatte ich so viel Sand gesehen, geschweige denn Dünen. Alles ringsherum schien sehr karg, wenn man von den wenigen Grasbüscheln auf den Dünen absah und dem Rasen direkt am Gebäude.
Ich wurde mit einigen anderen Kindern der „Gruppe 5“ zugewiesen. Alles schien auf die Minute geplant und getaktet.
Man behandelte uns wie Fracht.
Mir wurde ein kleines Zimmer zugewiesen, zusammen mit einem anderen Mädchen. Ich kann mich nicht mehr an ihren Namen erinnern oder woher sie kam.
Vom ersten Tag an herrschte Zucht und Ordnung wie auf einem Kasernenhof, und die enorm beklemmende Atmosphäre legte sich wie ein riesiger Schatten über alles.
Aus welchem Grund auch immer, verbrachte ich die weitere Zeit allein auf dem Zimmer. Ich kann bis heute nicht sagen, was mit dem anderen kleinen Mädchen geschehen ist und ob sich mein Gedächtnis bis heute hartnäckig weigert, sich daran zu erinnern.
Trotz meiner vielen präsenten Erinnerungen verbergen sich noch immer dunkle Flecken darin aus jener Zeit.
Speisesaal:
Es gibt einige tiefergreifende Erlebnisse in jenem Speisesaal, die mich noch heute beschäftigen und die gleichermaßen innerliche Wut und Traurigkeit in mir auslösen. Aufgrund der bereits schlechten Erfahrungen bei meinem langen Aufenthalt in der Kinderklinik war ich kein guter Esser (Essen wurde in der Kinderklinik unter Zwang verabreicht – vor allem fast täglich: Fisch!) und ich weiß, dass es meine Mutter sicherlich aufgrund dieser Umstände und meiner langen, schweren Krankheit damals alles andere als leicht mit mir hatte. Doch dadurch begriff ich bereits sehr früh, dass mir die vermeintliche Mutterliebe nur entgegengebracht wurde, wenn ich krank und „hilflos“ war.
Im Speisesaal herrschte das Motto „Es wird gegessen, was auf den Tisch kommt!“ wie eine militärische Anordnung. Das Essen wurde direkt an den riesigen Tischreihen an die Kinder ausgeteilt. Dort roch es ständig nach vergorener Milch und angebranntem Grießpudding. Und diesen gab es fast täglich als Nachspeise.
Eines Tages waren Pflaumen darauf. Pflaumen fand ich als Kind widerlich. Meine andere Oma, mütterlicherseits, besaß ein großes Grundstück mit Obstbäumen und lauter Gemüse, das fast täglich bewirtschaftet werden musste. Bei der Pflaumenlese entdeckte ich oft „Würmchen“ in den Pflaumen, die ich dann unterhalb des großen Gartens auf dem Kompost werfen durfte. Mir kam einfach nicht in den Sinn, jemals in eine Pflaume zu beißen oder Pflaumenkuchen zu essen – es war für mich als Kind purer Ekel.
Und nun saß ich da und starrte den Grießpudding an - mit Pflaumen! Alles in mir bäumte sich auf. Und ich war nicht die Einzige. Eine der Aufseherinnen stürmte auf mich zu und befahl mir: „Das wird aufgegessen, und wenn Du bis zum Abend hier sitzen bleibst!“ So war es dann auch. Ich saß stundenlang mit einigen anderen Kindern einsam an den riesig langen Tischreihen verteilt vor meinem Grießpudding mit Pflaumen. Bis zur Dunkelheit. Dann wurde ich unsanft an den Armen in mein Zimmer gezerrt.
An anderen Tagen mochte ich die Kartoffeln mit Gemüse nicht. Es roch einfach widerlich! Und oft war das Essen nicht einmal richtig warm und es sah aus, wie matschige Pampe. Auch einigen anderen Kindern ging es offensichtlich genauso.
Zwei Aufseherinnen befahlen uns, uns auf den Tisch zu stellen, und alle anderen Kinder drumherum wurde befohlen, uns laut auszulachen, weil wir nicht alles aufgegessen hatten! Der Spaß an der Erniedrigung war scheinbar größer als der Gedanke daran, dass wir mit unseren Schuhen auf dem Tisch standen – inmitten der teilweise noch gefüllten Teller der anderen Kinder.
Dieses Schauspiel wiederholte sich regelmäßig. Ich gewöhnte mich fast mit stoischer Gelassenheit daran, mich unter Zwang auf dem Tisch stehend auslachen zu lassen, um dieses fade Essen nicht runterwürgen zu müssen. Dieses Gefühl der Erniedrigung vergesse ich niemals.
Doch dann kam der Tag, an dem mir eine der Aufseherinnen meine Händen hinter meinem Rücken festhielt und mir das Essen mit dem Löffel in den Mund zwang! Als ich begann zu würgen, wurde ich so fest an den Armen gepackt und geschüttelt, bis ich mich erbrach und mein eigenes Erbrochenes wieder aufessen musste.
Von dem Tag an hatte ich panische Angst vor dem Essen und vor dem Speisesaal.
Ich schlang das Essen fortan so schnell herunter, dass ich möglichst kaum etwas schmeckte und versuchte dabei, alles um mich herum auszublenden.
(Vermutlich wäre ich heute ein Top-Kanditat für das Dschungelcamp von RTL.)
Nachdem sich die Kinder in den ersten Tagen nach ihrer Ankunft an dieses tägliche „Ritual“ gewöhnt hatten und alles über sich ergehen ließen, herrschte im Speisesaal fast völlige Stille. Nur das Klappern der Löffel, wenn sie die Teller berührten, war noch herauszuhören. Ein Geräusch, welches noch heute für mich kaum zu ertragen ist. Ich ziehe es daher vor, von Speisesälen, Großkantinen und dergleichen fernzubleiben. Wenn ich an Veranstaltungen teilnehmen muss, an dem viele Menschen in einem großen Saal sitzen und essen, ist dies auch heute für mich eine große Herausforderung. Die Bilder und Erinnerungen an die damaligen Zeit im Adolfinenheim schießen mir dann unweigerlich wieder durch den Kopf.
Spaziergänge:
Ich kann mich nur an sehr wenige Spaziergänge erinnern. Vermutlich fanden auch nur sehr wenige statt, aufgrund der permanenten eisigen Stürme, die draußen in der Nähe zum Meer zu dieser Jahreszeit herrschten.
Die Kinder der Gruppe mussten immer in einer 2er-Reihe den Aufseherinnen bzw. Schwestern folgen. Ähnlich, wie ich es bereits aus der Schule kannte (zu jener Zeit besuchte ich die 1. Klasse).
Der raue und eisige Wind tat mir in den Augen weh, und ich erinnere mich, dass sie tränten, während ich ansonsten versuchte, meine Tränen zu unterdrücken.
Wir wanderten durch die Dünen, und ich empfand es als sehr anstrengend. Die Kinder redeten kaum miteinander. Wir alle trotteten nahezu schweigsam hinter den Aufseherinnen her. Zu jener Zeit waren wir alle scheinbar zu eingeschüchtert, um uns auszutauschen oder Freude an der Natur zu empfinden.
Spielen:
Es gab so etwas wie ein Gemeinschaftsraum, in dem wir innerhalb der Gruppe spielen durften. Ich erinnere mich an Bauklötze, an große, bunte Stoffbälle und einige wenige abgegriffene Kinderbücher. Wenn ich malen wollte, musste ich nach einem Blatt Papier und Stiften fragen. Die bekam ich dann auch. Die wenigen Bilder, die ich malte (eines meiner Lieblingsbeschäftigungen als Kind), wurden jedoch anschließend eingesammelt und ich bekam keines je wieder zu Gesicht.
Vermutlich hätten sie später Aufschluss über die Geschehnisse und mein Befinden geben können und wurden daher einfach konfisziert oder vernichtet.
Nach jedem Besuch in diesem Gemeinschaftsraum musste ich einen „Lungentest“ machen, in dem ich mit voller Kraft in ein weißes Röhrchen mit einer Kugel hinten dran (mehr gibt meine Erinnerung an dieser Stelle nicht her) pusten musste und eine der Aufseherinnen machte sich dann Notizen auf einem Block Papier. Wahrscheinlich wurde hier mein Lungenvolumen überprüft. Diese Aufseherinnen gehörten offensichtlich nicht zu der Schwesternschaft, das sie keine Tracht trugen, sondern ganz normale Alltagskleidung.
Bis heute ist mir schleierhaft, wie sich unter den vorherrschenden Umständen in diesem sogenannten „Erholungsheim“ mein Lungenvolumen hätte verbessern sollen.
Schulunterricht hat dort übrigens in keiner Weise stattgefunden, und meine spätere Wiedereingliederung in die erste Schulklasse der Grundschule war für mich ein riesiger Kraftakt. Ich kann von Glück sagen, dass sich insbesondere mein Opa Willi sehr ins Zeug legte, um mit mir zu lernen. Viele meiner Hausaufgaben ging er mit mir zusammen durch, vor allem Rechnen und Schreiben. Er hatte eine enorme Geduld, da er zu jener Zeit anfing zu erblinden. Wir saßen immer gemeinsam am Küchentisch, während er mir beim Lesen zuhörte oder mit mir Rechenaufgaben löste. Ihm habe ich vor allem zu verdanken, dass ich die erste Schulklasse nicht wiederholen musste.
An das Spielen draußen auf der angrenzenden Wiese vor dem Heim kann ich mich absolut nicht erinnern. Ich kann nicht einmal mit Sicherheit sagen, ob dies je überhaupt stattgefunden hat oder ob ich je daran teilgenommen habe – zwischen dem Aufenthalt in "meinem" Zimmer, dem Speisesaal, den Wasch- und Duschräumen, dem Spielzimmer, den Behandlungsräumen und den ein oder anderen Spaziergängen.
Woran ich mich aber noch sehr genau erinnere, ist, dass ich einmal alleine in meinem Zimmer saß und draußen einen Jungen beobachtete. Mein Zimmer befand sich im Erdgeschoss des Gebäudes. Alles spielte sich während meiner Zeit dort im Erdgeschoss ab. Der Junge war ganz allein da draußen und ich vermute, er gehörte nicht zu den Heimkindern. Plötzlich hatte er einen großen Stein in der Hand und warf ihn genau in die Richtung meines Zimmerfensters! Ich war so erschrocken, dass ich mich mit meinem Bettzeug vor die Türe hinkauerte. Alleine konnte ich das Zimmer nicht verlassen. Es war abgeschlossen.
Und dann war da noch ein anderer Raum ...
Schlafsaal:
Es gab offenbar zu jener Zeit noch einen alten Anbau. Darin befand sich ein maroder, grauer Schlafsaal mit ebenso alten Stahlbetten. Kein einziges Tüpfelchen Farbe war darin zu erkennen. Nur die verrotteten Wände, ein ebenso abgenutzter Boden und eine große Türe. Vermutlich hätte ich diesen Anbau nie zu Gesicht bekommen, wenn ich nicht eines Nachts doch schluchzend in mein Kissen geweint hätte. Ich kann nicht mehr sagen, was der Grund dafür war, dass ich weinen musste. Ob es Heimweh war, ob ich meine Spielkameraden zu Hause vermisste, meine Tiere, meine Oma oder ob es ein bestimmter Vorfall war. An der Stelle hat mich meine Erinnerung bis heute verlassen. Aber alles, was danach passierte, hat sich bis heute in meiner Erinnerung eingebrannt …
Plötzlich wurde die Tür zu meinem Zimmer aufgerissen, und eine der Schwestern stampfte wutschnaubend hinein. "Du hörst jetzt sofort auf zu heulen, sonst zeige ich dir, wo du ab heute schlafen wirst!" Dieser Satz dröhnt noch heute in meinen Ohren. Ich war so erschrocken über diese Kaltherzigkeit, dass ich versuchte, mich von ihren festen Handgriffen wegzureißen! Das war fatal. Sie zerrte mich mit solcher roher Gewalt aus dem Bett, ohne Strümpfe und nur mit meinem Schlafanzug bekleidet, in den Flur hinaus durch mehrere Gänge. Drumherum herrschte Todesstille. Ich sah und hörte niemanden. Ich fiel mehrmals hin, und sie schleifte mich hinter sich her, als wäre ich ein Stück Holz! Dann schloss sie eine große Tür auf – und zog mich hinein in den bis dahin unbekannten, alten Schlafsaal. Ich begriff überhaupt nicht, was da gerade vor sich ging. Eh ich mich versah, schnallte sie mich am Bettgeländer fest. "Wehe, ich höre auch nur noch einen Mucks von dir!" Mit diesen Worten verließ sie den Schlafsaal. Ich kann kaum beschreiben, welch panische Gedanken mich überkamen. Ich hatte Mühe zu atmen, und es war eisig kalt. Auch hier weiß ich nicht, was am nächsten Morgen geschah und wie ich diese Nacht überstanden habe. Aber ich weiß, dass ich von jener Nacht an keine Träne mehr weinte - auch nicht heimlich alleine. Einige Tage später im Speisesaal erfuhr ich von einem der anderen Kinder, dass es einem kleinen Jungen bereits ähnlich ergangen war wie mir.
Vermutlich war diese Art der Einschüchterung gängige Praxis.
Duschraum:
Ich lag wieder alleine in meinem kleinen Zimmer. Zuvor hatte ich widerlichen Hagebuttentee zum Abendbrot getrunken. In den alten zerbeulten Blechtassen schmeckte einfach alles metallisch. Bei einem meiner nächtlichen Erlebnisse zuvor in diesem maroden Schlafsaal hatte ich mir vermutlich die Blase erkältet. Ich kann mich noch an das schmerzhafte Ziehen im Unterleib sehr gut erinnern und, dass ich permanent das Gefühl hatte, auf’s Klo zu müssen. Ich lag schätzungsweise bereits mehrere Stunden in meinem Bett und das Zwacken im Unterleib war derart schmerzhaft, dass ich zu Tür ging und nach der Schwester rief. Sie kam auch nach kurzer Zeit und schloss die Türe auf. Was ich dann erlebte, ist an Grausamkeit kaum zu überbieten … Sie schubste mich zurück auf mein Bett und befahl mir sofort still zu sein! Ich bäumte mich auf und gab ihr unvermittelt zu verstehen, dass ich mal „musste“ und Schmerzen hatte. Am oberen Ende des Bettes war ein Bettkasten, in dem ich jeden Morgen mein Bettzeug reinstopfen musste. Das war scheinbar einfacher, als von einer 6-jährigen von geringer Körpergröße zu verlangen, das Bett ordentlich herzurichten. Sie befahl mir, in den Bettkasten hinein zu klettern. Ich traute meinen Ohren nicht und sah sie verzweifelt an! Ich kann noch heute förmlich spüren, wie sich meine groß aufgerissenen Augen auf die Schwester richteten und dachte, sie fielen mir aus dem Kopf. Sie packte mich, und drückte mich in den Bettkasten. Die Klappe über mir fiel zu. Dann schloss sie die Zimmertüre wieder von außen ab. Ich kauerte in dem Bettkasten bis ich nicht mehr „einhalten“ konnte. Ich bekam kaum Luft. Warmer Urin floss unter meinen Füßen hindurch. Als hätte die Schwester geahnt, was passieren würde, stürmte sie nach kurzer Zeit wieder in mein Zimmer und zerrte mich aus dem Bettkasten raus in den nächstgelegenen Duschraum. Dort befahl sie mir, mich zu entkleiden, trat meinen urindurchtränkten Schlafanzug mit den Füßen zur Seite: „Du legst Dich da jetzt auf den Boden und bleibst da, bis ich dich morgen früh holen komme!“ Das Licht ging aus und sie knallte die Türe hinter sich zu. So lag ich fast nackt, völlig entkräftet auf den kalten Fließen des Duschraumes – in der Dunkelheit. Am nächsten Morgen packte sie mich, duschte mich kalt ab und zog mich unter Zwang an. Kurze Zeit später drangen die Kinder aus meiner Gruppe in den Duschraum an mir vorbei und schauten mich ängstlich an oder einfach weg. Die nächsten Tage verbrachte ich wieder alleine auf meinem Zimmer. Ich erhielt abends eine Wärmflasche und bekam heißen Tee. Regelmäßig musste ich ins „Behandlungszimmer“. Ein schlanker Arzt mit Hornbrille untersuchte mich mehrmals in den Tagen darauf und ich bekam jedesmal eine Spritze. Er redete dann immer auf mich ein, da ich aufgrund der Erlebnisse in der Kinderklinik panische Angst vor Spritzen und dergleichen hatte* und schon beim bloßen Anblick von diesen „Nadeln“ zurückschreckte. Nach den Spritzen musste ich mich immer an der Seite auf einen großen Stuhl mit Stufen davor setzen. Der Stuhl war so groß und hoch, dass ich hinauf klettern musste. Dann schaute ich mir immer alles ganz genau in diesem Zimmer an. Große Bilder der menschlichen Muskulatur hingen an den Wänden, auf ihnen stand alles in vermutlich altdeutscher Schrift, da ich es nicht entziffern konnte. Eine alte Waage stand im Raum und: kein einziges Fenster, aus dem man hätte nach draußen blicken können.
Was nach diesen Spritzen geschah – ich weiß es nicht. Sicherlich könnte ich hier vieles mutmaßen und anhand der Puzzleteile, die inzwischen aufgrund anderer Zeitzeugen zutage gefördert würden, lässt sich vieles nur erahnen.
Fakt ist: ich habe es überlebt.
* (Ich lag zu jener Zeit als etwa 3-jährige in der Kinderklinik am Tropf – an mehreren Gliedmaßen – sogar am Fußgelenk hing ein langer, dünner Schlauch – eine Art Gestell verhinderte, dass ich mich zu stark bewegen konnte … Später erfuhr ich von meiner Oma und meinem Vater, dass dies wohl aufgrund der Blutvergiftung "notwendig" war, auf diese Weise "am Tropf" zu hängen. Ich hatte schreckliche Schmerzen an den Hand- und Fußgelenken. Die ersten Wochen der Genesung, die seinerzeit kaum einer für möglich gehalten hatte, verbrachte ich im Rollstuhl und musste das Laufen neu erlernen. An der Stelle ist es wichtig zu wissen, dass ich bereits sehr früh laufen gelernt hatte … wie auch später das Lesen und Zeichnen … schon vor meiner Einschulung als 6-Jährige konnte ich gewisse Wörter aneinanderreihen und Zusammenhänge aus den Wörtern bilden.)
Nebelraum:
Ich weiß nicht mehr, wie man diesen Raum tatsächlich nannte. Wohl aber die Bilder sind in meinem Kopf geblieben ... Es war eine Art raumartiger Gang, durch den ich gehen musste. Alles war nebelig und furchtbar stickig. Ich erinnere mich, dass ich von hinten geschubst wurde und mir eine erwachsene Stimme immer wieder sagte: "Weiter, weiter ....!" Und ich ging weiter. Ich kann mich nicht daran erinnern, ob andere Kinder mit in diesem "Nebelraum" waren. Der Nebel wurde so schlimm, dass ich fast nichts mehr sehen konnte. Ich bekam immer schlechter Luft. Es war schier unmöglich zu atmen! Ich wurde panisch und fiel hin. Jemand zog mich über den Boden aus dem Raum raus. Meine Gelenke schabten über die Fließenränder und es tat furchtbar weh. Und auch da verlassen mich meine Erinnerungen. Was ich aber noch weiß und mich lange verfolgt hat: dass ich nicht atmen konnte und welche Angst ich in diesem "Nebelraum" hatte! Lange, lange Zeit haben mich diese Bilder im Kopf und das furchtbare Gefühl des Erstickens verfolgt.
Haare:
In meiner Gruppe gab es ein Zwillingspärchen: zwei Mädchen. Sie waren bildhübsch und hatten sehr langes, glattes Haar. Eines Morgens, als wir Kinder wieder alle in Reih und Glied im Waschraum standen, wurden die beiden Mädchen von einer Schwester hereingeführt. Sie weinten bitterlich! Und eh ich mich versah, wurde den beiden Mädchen vor allen anderen Kindern die Haare abgeschnitten und der Kopf kahl geschoren! Angeblich hatten sie Läuse.
Ich gehe davon aus, dass auch dies als Abschreckung diente oder eine Strafmaßnahme war, für irgendetwas, was die beiden Mädchen „verbrochen“ hatten. Ich sah die beiden Mädchen noch einige Male danach mit ihren kahl geschoren Köpfen auf dem Weg zum Speisesaal. Rückblickend frage ich mich noch heute, wie dies später den Eltern erklärt wurde und ob diese jemals hinterfragt haben, wie es genau dazu gekommen war.
Ich hatte zu jener Zeit hellblondes, leicht lockiges und recht widerspenstiges Haar. Haare waschen und bürsten, war für mich immer ein ziemliches Greuel. Wahrscheinlich hätte mich diese Art von Strafe eher weniger eingeschüchtert.
Viele Jahre später, mit etwa 13 Jahren, ließ ich mir von einem Freund die Haare, ohne Einwilligung meiner Mutter, kurz schneiden. Er war nur einige Jährchen älter als ich und hatte eine Begabung zum Haareschneiden. Für mich war das eine große Befreiung, da ich zu jener Zeit regelmäßig Sport machte – vor allem Schwimmen. Als ich dann mit den rappelkurzen Haaren zu Hause auf meine Mutter traf, endete das mit einer Tracht Prügel und Stubenarrest.
Das war wohl die Zeit, in der ich mein „rebellisches“ Eigenleben entwickelte. Die kurzen Haare waren erst der Anfang. (An der Stelle sei angemerkt, dass der besagte Junge bereits eine Friseurlehre begonnen hatte und danach seiner Berufung nachging. Ich sah also mit den kurzen Haaren seinerzeit richtig schick aus :-) - auch, wenn meine Mutter dies anders sah. Ich weiß noch zu gut, dass meine Tante Hildegard mich „klasse“ fand mit diesem sportlichen Haarschnitt und sie meine Mutter tagelang versuchte zu besänftigen – bis sie mich aus dem Stubenarrest entliess.
Post:
Während der gesamten 6 Wochen erhielt ich nur eine Postkarte von meiner Mutter (darauf waren Lämmer abgebildet) und ein kleines Paket von meiner Oma mit einem Stoffelefanten.
Trotz des schwierigen familiären Umfelds war die Sehnsucht nach einem Zeichen der Hoffnung so immens groß, dass es mir die Kehle zuschnürte, wenn ich sah, wie einige der Kinder einen Brief in den Händen hielten, während ich weiterhin vergeblich wartete. Es schnürte mir die Kehle zu – auch dieses Gefühl werde ich nie vergessen.
Erst später kam bei den Recherchen heraus, dass die Post unterschlagen bzw. zurückgehalten wurde und dies vermutlich eine Einschüchterungstaktik war, um die Kinder gefügig zu machen oder sie emotional von ihrem Zuhause zu entfremden.
Ich konnte diese Umstände zu Hause nie ganz aufklären, da meine Mutter sich diesem Thema der schrecklichen Erlebnisse während meiner Zeit als Verschickungskind nahezu vollständig entzog. Lediglich meine Oma Billa mischte sich später ein und erzählte mir, dass sie mir jede Woche einen Brief geschrieben hatte – von dem ich nie einen erhalten hatte.
Natürlich verspürten auch alle Kinder, die bereits schreiben oder zumindest zeichnen konnten, das Bedürfnis, ihren Eltern Briefe zu schicken. Dazu erhielten wir vorgefertigte, mit der Schreibmaschine getippte Briefe mit kurzen Sätzen, auf denen wir unterhalb des Textes „unterschreiben“ oder etwas malen durften – natürlich im Beisein einer der Schwestern bzw. Aufseherinnen.
Damit war zu keiner Zeit die Möglichkeit gegeben, den Eltern bzw. Angehörigen über die schrecklichen Vorkommnisse und Missstände während des Aufenthalts dort im Adolfinenheim zu berichten.
Sturmflut:
An einem Tag wurden wir darüber aufgeklärt, dass ein größerer Sturm bevorstand. Im Grund wohl keine großartige Besonderheit in dieser geografischen Lage zu dieser Jahreszeit. Wohl aber für all jene Kinder, die aus ganz anderen Regionen des Landes stammten. Ein Sturm am Meer und inmitten von Sanddünen war für viele beängstigend. Es kam, wie es kommen sollte: der Sturm rüttelte am Gebäude und draußen hörten wir Gegenstände umherfliegen. Noch einige Tage danach wehte der Wind kräftig. Dennoch wurden wir zu einem Spaziergang ans Meer aufgefordert. Ich durfte meinen rosafarbenen, dicken Anorak anziehen, eine warme Mütze und ein Wollschal und reihte mich mit den anderen Kindern ein. Wir besuchten die sogenannten „Kaimauern“, wovon ich zuvor noch gehört hatte und gar nicht wusste, was dies sein sollte. An den Kaimauern angekommen, konnten wir Kinder uns bei dem starken Wind kaum halten. Das Meer peitsche weit über die Mauern hinweg und die Aufseherinnen ermahnten uns eng zusammen zu bleiben.
Und hier erinnere ich mich, dass eines Tages eine junge Frau in die Gruppe kam und die Kinder tagsüber betreute. Ich vermute, sie befand sich in einer Art Ausbildung. Diese Frau, deren Namen ich leider nicht mehr weiß, war der einzige sympathische erwachsene Mensch, dem ich in dieser Zeit dort begegnet bin. Ich weinte innerlich jedes Mal vor Freude, wenn ich sie sah! Sie nahm mich in einer stillen Stunde einmal in den Arm, brachte mich ins Bett, und ein zaghaftes „Tschhhhhhh ...tschhhhhhh …“ kam über ihre Lippen. Sie strich mir die Haare aus der Stirn und lächelte. Sie hatte halblanges, braunes, leicht gewelltes Haar und strahlte eine Sanftmütigkeit aus, die an diesem Ort völlig deplatziert schien. Für mich war sie dort wie eine gute Fee!
An jenem Tag begleitete sie uns Kinder zu den Kaimauern. Meine Augen hafteten ständig an ihr, als wäre sie ein wandelnder Leuchtturm, an dem ich mich orientieren konnte. Als das Meer über die Kaimauern hinweg peitschte, schrieen einige der Jungs auf – nicht aus Angst, sondern aus Faszination. Ich konnte es in ihren Augen sehr gut erkennen. Einer der Jungs entfernte sich aus der Gruppe. Offenbar konnte er nicht genug sehen, weil die anderen Kinder vor ihm standen. Er rannte einige Meter näher an die Kaimauern heran, als eine riesige Welle über diese hinweg schlug. Die „gute Fee“ rannte von der anderen Seite wie ein Blitz auf ihn zu, um ihn zurückzuhalten. Doch der Junge stoppte unvermittelt. Die Welle schoss mehrere Meter über die Mauer hinweg, und jene „gute Fee“ verlor den Halt.
Was dann geschah, war tumultartig. Unzählige Wassertropfen trafen mich und einige der anderen Kinder, meine Augen brannten, die Kinder schrieen wild durcheinander. Die beiden Aufseherinnen drängten uns zurück und befahlen uns sofort in die andere Richtung zurückzugehen.
Ich habe meine „gute Fee“ niemals wiedergesehen. Am Tag nach diesen Vorkommnissen wurde kein Wort darüber gesprochen. Ich vergesse dieses düstere Schweigen niemals. Die Tage drauf waren beklemmender denn je. Bis heute weiß ich nicht, was mit dieser Frau genau passiert ist, ob sie sich verletzt hatte oder Schlimmeres und daher während meiner Aufenthaltszeit dort nicht zurückkehrte.
Lange, lange Zeit, über Jahre hinweg, ging mir dieses Erlebnis nicht aus den Kopf und machte mich immer und immer wieder traurig.
Rückfahrt:
Je mehr ich in meiner Erinnerung grabe, desto mehr könnte ich wohlmöglich noch über die Erlebnisse als Verschickungskind auf der Insel Borkum im Adolfinenheim berichten.
Als der langersehnte Tag der Rückreise endlich da war, spielte sich nahezu dasselbe Prozedere, wie auf der Hinreise ab. Zwei Aufseherinnen begleitete uns auf der Fähre und im Zug. Es waren viele Kinder dabei, die ich zuvor niemals gesehen hatte und die vermutlich aus anderen Gruppen stammten. Einige waren älter, als ich. Ich erinnere mich noch an die kleines „Mäppchen“, die ich mit einer Art Kordel um den Hals hängen hatte. Darin befand sich vermutlich mein Name und meine Adresse. Alle Kinder hatten diese „Mäppchen“ umhängen. Kurz vor der Ankunft mit dem Zug gingen zwei Aufseherinnen durch die Gänge und gaben uns zu verstehen, dass wir gleich angekommen seien.
Mein Blick sog alles auf, was draußen vorbei rauschte. Dann hielt der Zug im Bahnhof an. Wir Kinder sprangen von den Sitzplätzen auf und waren nicht mehr zu halten! Viele von ihnen weinten lautstark, und ich sah die Tränen über ihre Gesichter laufen. Mir pochte das Herz so stark in der Brust, dass ich dachte, ich müsste ersticken. Die Aufseherinnen versuchten, den Überblick zu behalten, doch es gelang ihnen nicht! Die Kinder stürzten aus dem Zug. Ich ebenfalls. Meine Augen flitzten hin und her, denn ich wusste nicht, wer mich abholen würde.
Meine Mutter? Meine Oma? Mein Vater? Oder alle zusammen?
Am Bahnsteig standen überall fremde Erwachsene herum – die wartenden Eltern. Dann kamen meine Oma Billa und meine Mutter auf mich zugelaufen und rissen mich an sich. Die Angst, dass man mich vergessen hatte, war unmittelbar verschwunden. Stattdessen brach ich in Tränen aus. Meine Oma wischte mir mit einem weißen Stofftaschentuch das Gesicht ab und versuchte, mich zu beruhigen. Dann erinnere mich sehr genau an einen schreienden Vater: „Wo ist mein Sohn!“ Er wiederholte diese Worte ständig und schrie immer lauter. Ich beobachtete unter Tränen, wie der Vater anfing, eine der Aufseherinnen zu packen. Meine Angst kehrte wieder. Und ich konnte den Blick von der Szene nicht abwenden, während meine Oma mich noch im Arm hielt.
Hatte man einen der Jungen vergessen?
Wer war dieser Junge?
Der Vater schrie immer weiter auf die Aufseherinnen ein und dies war ein entsetzliches Gefühl für mich.
Meine weitere Erinnerung setzt an dieser Stelle aus. Ich kann mich auch nicht an die Weiterfahrt auf dem Weg nach Hause erinnern.
Wohl aber, dass ich unzählige Male versucht, von den Erlebnissen zu berichten. Tage danach, Wochen danach … Nur meine Oma Billa glaubte mir damals als Kind und ich weiß noch, dass sie versuchte, der Sache auf den Grund zu gehen und dies viel Streiterei entfachte. Nicht zuletzt deswegen, verbrauchte ich einen großen Teil meiner Kindheit anschließend bei ihr und meinem Großvater. Leider verstarb sie mit nur 60 Jahren an Krebs, als ich 12 Jahre alt war. Ich verlor in vielerlei Hinsicht meinen Halt. Die Jahre in meiner Jugendzeit danach waren ebenfalls traumatisch. Mein Großvater war inzwischen vollständig erblindet und dadurch schwerbehindert. Er konnte alleine das Haus nicht mehr verlassen. Doch seine Tür stand mir immer offen und er war für mich zu jener Zeit einer der wichtigsten Respektpersonen, an denen ich versuchte, mich zu orientieren.
Schlusswort & wichtige Informationsquellen:
Alle diese Erziehungsmethoden der Einschüchterung, Demütigung, Erniedrigung, Gewalt, Isolierung, Kontrolle und Manipulation werden übrigens "schwarze Pädagogik" genannt und wurden massiv zu Zeiten des Nationalsozialismus bei Kindern angewandt. Gehorsam war das oberste Gebot.
Heute sitze ich hier und schriebe diesen Blog-Artikel – fast 50 Jahre nach meinen Erlebnissen als Verschickungskind. Ermutigt, durch all’ die Recherchen, die inzwischen stattgefunden und Dank anderer Betroffene, die den Mut gefunden haben, von dieser schrecklichen Zeit zu berichten. Auch Dank derer, die mich in meinem heutigen Umfeld bestärkt haben – vor allem meine 6 Jahre jüngere Schwester, mit der ich eine Kindheit in nahezu völliger Entzweiung und Entfremdung aufgrund einer völlig gegensätzlichen Erziehung verbracht habe. Meine Schwester, die ich erst mit über 40 Jahren als ebenso starke Persönlichkeit tatsächlich kennenlernen durfte. Wir sind stolz aufeinander, dass wir uns von gegenseitigen Schuldgefühlen befreien konnten und, dass aus uns hochemphatische, erwachsene Menschen geworden sind. Und, weil wir aus unseren Schwächen unsere ganz besonderen Stärken entwickelt haben.
Es ist wichtig, dass sich weitere Puzzleteile aus jener Zeit als Verschickungskind zusammenfügen – in der Hoffnung, dass noch viele andere Betroffen ebenfalls die Kraft finden, sich zu erinnern, darüber zu sprechen, sich Hilfe zu holen … und: loszulassen.
Das Schlimmste für mich aus meiner Zeit als Verschickungskind ist nach wie vor, dass ich um meine Glaubwürdigkeit ringen musste – meiner eigenen Mutter gegenüber. Noch immer versuche ich meine innerliche Wut darüber zurückzuhalten. Und gerade diese Wut treibt mich an, die Recherchen, welche nun Stück für Stücke in das Licht der Öffentlichkeit gelangen, weiterzu verfolgen und letztendlich, über meine eigene Geschichte als Verschickungskind zu berichten.
Meine Eltern waren in ihren Ehejahren permanent mit ihren eigenen Themen beschäftigt. Konflikte und Dramen bestimmten fast den gesamten Alltag. Ich war ständig auf der Hut vor Drohungen und Strafen. Familiäre Ereignisse, Feiertage oder Ausflüge waren stark abhängig von der wechselhaften Stimmung meiner Mutter. Ich konnte nie sicher sein, ob solche Tage in Freude oder in einem Desaster endeten. Ich hatte gelernt, dass es in meiner Kindheit kaum Raum für meine Gefühle und Empfindungen gab. Stattdessen wurde ich eine Meisterin darin, meine Gefühle zu unterdrücken und mich ständig zusammenzureißen. Lediglich durch das Malen und Zeichen sowie später auch durch das Fotografieren und Schreiben, fand ich meine eigene Art, mich auszudrücken. Auf diese Weise konnte ich vieles verarbeiten – bis heute.
Viel zu lange habe ich jedoch geschwiegen und erst spät den Mut gefunden, mich einigen wenigen Menschen außerhalb meiner Familie anzuvertrauen. Das Muster meiner Verdrängungstaktik habe ich über viele Jahre hinweg in Kleinstarbeit aufgearbeitet. Der Prozess, das toxische Verhaltensmuster in meiner Familie aufzubrechen, ist noch lange nicht zu Ende. Dessen bin ich mir bewusst. Den Zustand, des sich ständigen Zusammenreißens und alles aushalten zu müssen, hat mir jedoch unendlich viel Kraft abverlangt.
Oft kommen weitere Erinnerungen an jene Zeit in mir hoch. Schon lange habe ich darüber nachgedacht, ein Buch zu schreiben, damit jeder einzelne Erinnerungsfetzen überlebt. Durch einige weitere Schicksalsschläge bin ich immer wieder davon abgekommen. Inzwischen weiß ich: alles hat seine Zeit – vor allem, das Auf- und Verarbeiten traumatischer Erlebnisse.
Ich fühle mich wie in meiner eigenen „Reparaturwerkstatt“, seitdem ich mich zu den traurigen Ereignissen aus meiner Kindheit und Jugendzeit bekenne und offen darüber berichte. Daraus entstand mein Projekt „Alexografie“ (www.alexografie.de). Ich möchte anderen Betroffenen Mut machen, sich auszutauschen und voneinander zu lernen. Vor allem jene hochsensiblen Seelen da draußen, die sich noch ganz am Anfang auf dem Weg ihrer Entdeckungsreise zu sich selbst befinden. Ich möchte sie dazu inspirieren, sich selbst gegenüber Verständnis und Mitgefühl entgegenzubringen. Erst dann können wir losgehen und lernen, ein selbstbestimmtes Leben zu führen und uns in herausfordernden Situationen besser regulieren.
Wenn man es schafft, eine tiefe Verbindung zu sich selbst einzugehen, fällt der graue Schleier, der all’ die bunten Farben und Töne im Leben verschluckt hat. Man lernt, sich weniger auf den Schmerz und stattdessen mehr auf die Lektion zu konzentrieren, um daran zu wachsen und sich weiterzuentwickeln.
Die Stärksten erhalten oft die schwersten Päckchen.
Dennoch ist es wichtig, sich fachlichen Rat einzuholen bzw. sich entsprechend therapeutische Hilfe zu suchen. Ich weiß aus eigener Erfahrung, wie schwer dieser Schritt ist.
Es gibt diverse Facebook-Gruppen, in denen sich Betroffene über ihre Erlebnisse aus jener Zeit austauschen können - z.B.:
Wichtig ist vor allem auch die Arbeit des Vereines:
Aufarbeitung Kinderverschickungen-NRW e.V. (AKV-NRW e.V.)
Postanschrift: Parkstr. 1347661 Issum
Spenden sind herzlich willkommen, um zur unabhängigen und wissenschaftlichen Aufarbeitung beizutragen.
Beim AKV-NRW e.V. kann vieles über die Geschichte und Aufklärungsarbeit der Verschickungskinder nachgelesen werden. Mein Dank gilt an dieser Stelle Detlef Lichtrauter (1. Vorsitzende und Pressesprecher des o.g. Vereines), der mir bei meiner Kontaktaufnahme sofort antwortete und wichtige Infos und Tipps gab.
Hier noch wichtige Informationen zur Selbsthilfegruppe Verschickungskinder Köln:
(Bilder anklicken zum Anzeigen & Downloaden)
Vielen Dank an Silke Ottersbach, welche mir die o.g. Informationen zur Verfügung gestellt hat - wie auch dieses Foto von ihr 1979. Sie wurde seinerzeit als "Kurkind" ins Adolfinenheim auf Borkum verschickt und hat die schrecklichen Missstände ebenfalls dort erleben müssen:
Silke Ottersbach sowie Regine Konstantinidis und Uwe Rüddenklau, sind heute die Heimortkoordinatoren für ehemalige Verschickungskinder Borkum und kümmern sich auch um die Austauschgruppe von ca. 80 Betroffenen (Stand April 2024). Silke stellte mir auch folgendes Foto zur Verfügung - es zeigt das einzige Plakat, welches auf der Insel Borkum zum bundesweiten Kongress im November 2021 dort ausgehangen wurde. Die Vermutung liegt nahe, dass bis heute dort auf der Insel das Interesse an weiteren Recherchen zur Aufklärung gering ist:
„Seit ich weiß, dass meine Erfahrung kein Einzelfall ist, will ich mehr wissen über die Struktur und die Verantwortlichen dieser ‚Verschickungsindustrie'“.
Hans-Georg Bierbass, verschickt 1972 ins Adolfinenheim auf Borkum.
Auch ich stelle mir immer noch viele Fragen zu jener Zeit als Verschickungskind:
Wer waren all’ die Profiteure in dieser „Verschickungsindustrie“ und können sie, wenn die Recherchen hier weiter voran kommen, jemals alle zur Rechenschaft gezogen werden – nach dieser langen Zeit?
Geschah dies alles aus rein finanziellen oder wissenschaftlicher Zwecken – oder gar beides?
Wurde ich, wie vermutlich auch andere Verschickungskinder, zeitweise sediert? … und viele, viele weiteren Fragen.
Folgende Bücher kann ich empfehlen:
"Zwischen Erholung und Zwang" - Kinderverschickungen in das Adolfinenheim Borkum (1921 - 1996) - Autoren: Gerda Engelbrecht u. Achim Tischer
"Die Akte Verschickungskinder" - Wie Kurheime für Generationen zum Albtraum wurden - Autorin: Hilke Lorenz
Ich habe bis heute die Insel Borkum niemals wieder betreten. Einzig das Geschrei der Möwen ist eine Erinnerung, an der ich freiwillig festhalten möchte, weil ich ihnen im Stillen damals als Kind zuflüsterte, sie mögen bitte nach Hause fliegen und Hilfe holen. Nein – auch dies ist kein Hirngespinst. Die Möwen habe ich auf Borkum gerne beobachtet. Sie waren so frei und lebendig und gaben mir zu jener Zeit ein bisschen Hoffnung.
Als ich später als junge Frau einmal in Holland durch die Dünen wanderte, musste ich mir alle Mühe geben, um Freude daran zu finden. Ich hatte diese Reise als Überraschung geschenkt bekommen und schluckte den dicken Kloß im Hals herunter. Selbst ein Picknick in den Dünen konnte nichts daran ändern, dass mir der Aufenthalt dort kaum Spaß bereitete. Sobald die Dünen aus meinem Blickfeld waren, war alles gut. Nach außen hin machte ich wieder eine gute Miene und unterdrückte meine innere Stimmung. Ich war noch weit davon entfernt, den Prozess der Verarbeitung aus jener Zeit als Verschickungskind in Angriff zu nehmen.
Vor ein paar Jahren besuchte ich Island. Ich unternahm eine Kutterfahrt hinaus aufs Meer – um zu fotografieren. Es war eisig kalt. Nur einige wenige standen oben an der Reling, um das Naturschauspiel zu beobachten und in der Hoffnung, Wale zu entdecken.
Kaum jemals zuvor habe ich es so genossen, zu atmen!
Nach einer Weile begannen die Wellen kräftiger zu werden und der Kutter schaukelte beachtlich. Alle gingen runter in die Kajüte. Doch ich blieb oben alleine stehen - in meinem dicken Schutzanzug und mit meiner Kamera in der Hand.
Ich hörte keine Kinder weinen.
Ich hatte keinerlei Angst.
Ich fühlte mich frei.
Als ich dann später ebenfalls runter in die Kajüte ging, um mich aufzuwärmen und meine Kameraausrüstung zu verstauen, beobachte ich die Wellen durchs Fenster. Ich konnte meine fast steif gefrorenen Finger kaum bewegen. Uns wurde gesagt, dass sich unterhalb des Kutters Wale befanden, die wohl aufgrund der derzeit stürmischen See nicht aufgetaucht waren und wir konnten auf dem Radar tatsächlich beobachten, dass dem so war. Mein Respekt vor dieser unbekannten Weite des Meeres unter uns wuchs von dem Moment an enorm. Ich hielt einen heißen Kakao in den Händen und wurde etwas erbost gefragt: „Was grinst Du denn so? Das war nicht lustig, dass Du bei dem Wellengang da oben geblieben bist!“
Ich grinste nicht, ich lächelte.
Weil ich zum ersten Mal spürte, welche Kraft das Loslassen in mir auslöste und wie klein wir Menschen auf dieser Welt sind. Größe entsteht durch die Macht unserer Gedanken. Wenn wir nicht die Kraft haben, sie zu kontrollieren, geschehen solche Dinge wie zu jener Zeit der Verschickungskinder. Wenn Erwachsene sich über Schutzbefohlene erheben und ihnen seelisches und körperliches Leid zufügen, um sich ihrer zu ermächtigen.
Alle Erwachsenen waren auch einmal Kinder. Kein selbst erfahrenes Leid darf jemals dazu dienen, andere Seelen zu quälen.
Zur selben Zeit, in der ich diesen Blog-Artikel schreibe, leiden und sterben unzählige Kinder auf der ganzen Welt. Aufgrund von Misshandlungen, Kriegen, Hungersnot. Hier stelle ich mir jeden Tag eine weitere Frage: Ist die Welt je zu einer besseren geworden?
Jeder wird seine eigene Antwort darauf haben.
Ich möchte nicht aufgeben, diese Welt zu einer besseren machen. Und wenn es nur der stetige Versuch ist.
"Wenn viele Menschen kleine Dinge tun, ist dies in der Summe etwas großes."
Ich blicke nicht mehr mit Verzweiflung auf jene Zeit zurück, wohl aber mit Traurigkeit. Damit auch die Traurigkeit keine zu große Macht über mich gewinnt, habe ich mich zu einem humorvollen Menschen entwickelt, der sich selbst nicht immer so ernst nimmt. Das mag für viele widersprüchlich erscheinen, war und ist aber für mich der beste Weg zu heilen bzw. meine Resilienz zu stärken. Dies gelingt mir nicht an jedem Tag, aber das ist O.K.
Wichtig ist, das emotional vernachlässigte Kinder von der Gesellschaft aufgefangen werden. Wir sollten in den Schulen von Grund auf Themen wie Emphatie, Wertschätzung und Achtsamkeit lernen, damit wir solche Kinder nicht übersehen. Die Stärkeren in unserer Gesellschaft sollten lernen, die Schwächeren „mitzunehmen“ und ihnen helfen, selbstbestimmt durchs Leben zu gehen.
Die Unterdrückung von Schwächeren oder Menschen die „anders“ sind, wird niemals zu Frieden in dieser Welt führen. Dies kann nur geschehen, wenn wir uns gegenseitig mit Herzlichkeit, Verständnis und Offenheit begegnen.
Allen Verschickungskinder aus jener Zeit wünsche ich weiterhin viel Kraft: seid stolz darauf, wer Ihr seid, und haltet an Eurem Weg fest! Lasst los, was Euch nicht gut tut.
Lernt, zu vergeben.
Alex
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Dort findet Ihr nicht nur hilfreiche Tipps (und Lektionen aus unseren langjährigen Erfahrungswerten) rund um das Thema Hochsensibilität und Achtsamkeitsfotografie. Dort geht’s auch ganz einfach mal wild, lustig und ernst zu – langweilig wird es ganz bestimmt nicht! ;o)
Achja: auch, wenn Ihr selbst nicht hochsensibel seid – das macht gar nix! Ihr findet ganz sicherlich dennoch bei uns eine Menge Tipps, die Euch helfen, durch den ganzen Alltagswahnsinn hindurch zu kommen. Oder: vielleicht habt Ihr einen hochsensiblen Menschen in Eurem persönlichen Umfeld – dann hilft es Euch ganz sicher, diesen besser zu verstehen, wenn Ihr regelmäßig (oder wann immer Ihr wollt), bei uns reinschaut.
© Alexografie.de - Alex We Hillgemann - April 2024 Photos: persönliches Archiv, Wix, Unsplash